500 Jahre America Latina – Europa 1992


1992 Braunschweig
Künstler*innen:
Susanne Hesch, Karsten Meier (Braunschweig), Reinaldo Hernandez, Federico Matus Vega (Nicaragua), Miguel Angel Lobaina, José Seoane Hernandez (Santiago de Cuba) sowie: Hansi Volkmann (Organisation, Dokumentation), Corinna Winko (Übersetzung)
Träger:
KoPra e.V. gefördert von: VEN – Verein zur Förderung entwicklungspolitischer Initiativen in Niedersachsen, Bezirksregierung Braunschweig, Stadt Braunschweig, DGB Region Braunschweig, DGB Bundesvorstand, Nord/LB, Nds. Sparkassen- und Giroverband, sowie IG Metall Salzgitter und Hanns-Lilje-Stiftung
1992 jährte sich zum 500. Mal der Beginn der Kolonisierung Amerikas. In Europa wie auch in Lateinamerikawurde in großem Stil die „Entdeckung“ Amerikas gefeiert. Als Gegenbewegung mit dem Ziel, die Geschichte und Gegenwart der Ausbeutung Lateinamerikas mit ihren sozialen und kulturellen Folgen aufzuzeigen, riefen die Initiativen Cultur Cooperation Hamburg und Farbfieber e.V. Düsseldorf zu einem internationalen Wandmalprojekt America Latina – Europa auf. In 40 europäischen Städten entstanden 50 Wandbilder von mehr als 70 lateinamerikanischen und europäischen Künstlerinnen und Künstlern.
Von KoPra e.V. wurden zwei nicaraguanische und zwei cubanische Künstler nach Braunschweig eingeladen. Über drei Monate wurde zusammen gelebt und gearbeitet. Es wurden 4 große Bilder gemeinsam erarbeitet, mehrere öffentliche Veranstaltungen und Ausstellungen durchgeführt, in denen die Entwürfe präsentiert und zur Diskussion gestellt wurden, sowie zahlreiche Gespräche in Institutionen und Gremien über das Thema und die Bilder geführt.
Das erste von zwei Wandbildern in Braunschweig erzählt von der Eroberung Lateinamerikas, die vor 500 Jahren begann. Das Schiff der „Entdeckung“, das Schiffbruch erleidet; der Kriegszug der Eroberer, in deren Schattenbildern die Opfer, Gemordeten, Unterdrückten, aber auch Rebellierenden sichtbar werden. Auf den zerrissenen Segeln die Zerrbilder der jeweiligen Kulturen – das „Haben“ als Konsum- und Wohlstandsdenken für Europa und das zwangsläufig entgegengesetzte „Machen“ (hacer) für Lateinamerika als Lieferant des Wohlstands der „Ersten Welt“ mit Zeichen von Armut und industrieller Rückständigkeit.
Das zweite Bild auf einer gegenüberliegenden Wand nutzt die Metapher des Zirkus für eine Utopie vom Zusammenleben der Menschen. Ent-deckungen als Hoffnung für die nächsten 500 Jahre.
Putzmörtel, Dispersion, Acryl, Collage und Materialmontage auf Putz bzw. Klinkerwand
„El desarrollo es un viaje con más naufragos que navegantes.“
Entwicklung ist eine Reise mit mehr Schiffbrüchigen als Seefahrern.
(Eduardo Galeano)
Zum gleichen Thema der Conquista entstand ein mobiles Wandbild in Kooperation mit der IG Metall für die Außenfassade am Gewerkschaftshaus Salzgitter.
Dispersion, Acryl auf Nessel
Für die Petrus-Kirche in Barsinghausen wurde ein Fensterbild zum Thema Taufe gestaltet. Es war der Wunsch der Gemeinde, vor dem Hintergrund der Rolle der Kirche in der Geschichte Lateinamerikas (Unterdrückung und Befreiung) eine Interpretation der Taufe aus lateinamerikanischer Sicht für ihre Kirche zu erhalten.
Fenstermalfarbe auf Acrylglasscheiben, Acryl auf Holz und Wand
Und hier geht es zum Video vom Medienbüro Düsseldorf über das Wandbildprojekt.
Sorry – die technische Qualität ist leider im Laufe der Jahre und der Aufbereitung für digitale Formate nicht besser geworden.
Aus dem Arbeitsprozess
Zustand der Bilder 2022 nach fast 30 Jahren
Anmerkungen zum kulturellen Austausch zwischen Lateinamerikanern und Europäern beim Wandmalprojekt
(Text KoPra 1992)
Der kulturelle Austausch war eine der grundlegenden Ideen zur Durchführung des Wandmalprojektes 1992. Damit formulierte es den Anspruch, dass sich Menschen aus verschiedenen Kulturen kennenlernen, dass Künstlerinnen und Künstler aus Lateinamerika und Europa gemeinsam arbeiten. Gemeinsam arbeiten, um Bilder von Wirklichkeit zu entwerfen, die richtiger und wahrer sind, weil sie eben verschiedene Sichtweisen miteinander konfrontieren, in Auseinandersetzung bringen und schließlich im gemeinsamen Bild eine allgemeinere umfassendere Weltsicht zum Ausdruck bringen können, die die Grenzen der jeweiligen kulturellen Gefangenheit überwindet.
Über den Austausch innerhalb der Künstler*innen-Gruppen hinaus ergaben sich weitere Dimensionen des Kulturaustauschs durch andere in die Durchführung des Projekts einbezogene Gruppen, Organisationen, einzelne persönliche Bekanntschaften, das Publikum bei öffentlichen Präsentationsveranstaltungen, die Berichterstattung durch die Medien und schließlich durch die Öffentlichkeit des Malprozesses vor Ort und die Reaktionen der Betrachter der Bilder.
Die Frage danach, was kultureller Austausch im konkreten ist oder sein kann, ist in diesem Jahr nicht nur wegen der Jahreszahl “5oo Jahre Kolumbus“ so bedeutend. Wir sind umgeben von rassistischen und nationalistischen Gedanken und Taten. Während unseres Projektes fanden die Überfälle auf die Ausländerwohnheime in Rostock und anderen Städten statt. Die Deutschen, die sich selbst anständig und demokratisch nennen, waren empört und besorgt um das Ansehen Deutschlands im Ausland. Die Verschärfung des Aylrechts wurde gefordert und die „Endlösung“ des Ausländerproblems. Im Fernsehen diskutierten Wissenschaftler und Politiker in Sondersendungen über die Motive der aktiven und passiven Täter. Ergebnis: Sie sind Opfer; beraubt ihrer bisherigen Perspektive und ihrer kulturellen Identität. Das Gefühl der Identität muss also gefördert werden und das heißt: die Differenz zum Andern, zum Fremden. „Deutschland den Deutschen“ gerät so paradoxerweise zur Parole gegen Ausländerfeindlichkeit. Dies ist die Logik der derzeitigen Politik.
Aber dies ist auch der Hintergrund, vor dem Künstlerinnen und andere Kulturschaffende ihre Rolle bestimmen müssen. Aus diesem Grund ist es wohl wichtiger, nach kulturellem Austausch zu fragen statt nach kultureller Identität.
Damit soll nicht einer Suche der Menschen, gerade auch der lateinamerikanischen Menschen, nach kulturellen Wurzeln und Entwicklungslinien widersprochen werden. Aber die Utopie liegt in der Bewegung der Kulturen, der Begegnungen und Entdeckungen, nicht im Abgrenzen und Festschreiben kultureller Besonderheiten.
Zur Projektgruppe
(Text KoPra 1992)
Unsere Künstlergruppe von Kopra e.V., die in Braunschweig, Salzgitter und Barsinghausen gearbeitet hat, bestand aus zwei Cubanern, zwei Nicaraguanern, zwei Deutschen. ln dieser Gruppe fand die inhaltliche und künstlerische Erarbeitung statt, die schließlich zu den Bildern geführt hat. Aber intensive Auseinandersetzung und Austausch gab es auch mit den weiteren Mitgliedern der Wohngemeinschaft, in der wir zusammen lebten, mit den Dolmetscherinnen, weiteren Freunden und Bekannten. Beim gemeinsamen Abendessen saßen selten weniger als 11 Personen an einem Tisch, häufig mehr.
Wir hatten die Künstler aus Nicaragua und Cuba zum Teil schon vorher bei Reisen in ihre Länder kennengelernt. Trotzdem brauchten wir nach ihrer Ankunft in Braunschweig zunächst Zeit füreinander. Wir stürzten uns nicht gleich in die Arbeit, sondern nahmen uns Zeit, um uns (wieder) kennenzulernen, die Stadt, Geschäfte, Kneipen zu zeigen, uns gegenseitig unsere künstlerischen Arbeiten vorzustellen und Vorstellungen über Sinn und Ansprüche an das Projekt auszutauschen.
Als vage theoretische Überlegung war es vielleicht schon vorher in unseren Köpfen, aber im Verlauf unseres Zusammenlebens und -arbeitens konkretisierte sich die Tatsache, dass die Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit in unseren Beziehungen zwar Grundidee für das Projekt, jedoch zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit nicht Realität war. Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit waren nicht allein durch den guten Willen aller Beteiligten vorhanden, sondern mussten gesucht, erarbeitet, erprobt werden, konnten nur Ziel unserer gemeinsamen Anstrengungen, Offenheit und gegenseitigen Respekts sein.
Zum einen wurde uns unsere tatsächliche Ungleichheit auf eindringliche Weise von Dritten demonstriert. Schon am Hamburger Flughafen scheiterte unser Projekt fast an den Grenzbeamten, die die Cubaner trotz Visa und offiziellen Einladungen zurückschicken wollten, weil diese keine Devisen in der Tasche hatten. Außerdem, so fanden sie, sollten Bilder in Deutschland auch von deutschen Künstlern gemalt werden. Bei sämtlichen Visaanträgen mussten wir uns für die Lateinamerikaner verantwortlich erklären, ihre Ausreise garantieren. Ein Visum für Österreich, das nur für die Durchreise nach Italien benötigt wurde, wurde verweigert: die Lateinamerikaner könnten ja aussteigen und Asyl beantragen. In einigen Geschäften in Braunschweig wurden die Lateinamerikaner nicht bedient sondern misstrauisch verfolgt und beobachtet.
Des weiteren gab es durch die engen finanziellen Rahmenbedingungen des Projekts organisatorische und zeitliche Notwendigkeiten, die nicht immer dem gemeinsamen Arbeitsrhythmus der Gruppe entsprachen. Wir haben letztlich in drei Monaten vier große Bilder erarbeitet, mehrere öffentliche und halböffentliche Veranstaltungen und Ausstellungen durchgeführt und zahlreiche Gespräche über Bildideen und Arbeitsvorhaben in Gremien und Institutionen geführt, die für die Genehmigung und Bereitstellung der Malgründe und -orte zuständig waren. All diese Notwendigkeiten mussten den Lateinamerikanern vermittelt und erläutert werden. Die Arbeit am Thema und an der künstlerischen Umsetzung musste dabei manchmal sprunghaft und phasenweise sehr schnell geleistet werden – ganz im Gegensatz zum Beispiel zu den Arbeitserfahrungen der beiden Nicaraguaner, die bisher immer ein Jahr und länger in Ruhe, Kontinuität und ohne finanziellen Druck an einem Projekt arbeiten konnten.
Aber es waren nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch die Vorstellungen und Bilder, die jede/r Beteiligte von den anderen und sich selbst im Kopf hatte, durch die der gleichberechtigte Austausch Ziel, aber nicht Ausgangspunkt des Projekts sein konnte. So bekannte zum Beispiel einer der Lateinamerikaner, dass es für ihn schwierig sei, sich von der Vorstellung zu lösen, ein Kolonisierter zu sein. Wir Deutsche entdeckten an uns selbst plötzlich ein Erstaunen über die lntellektualität der künstlerischen Diskussion der Lateinamerikaner – wir hatten das anscheinend für eine typisch deutsche Eigenschaft gehalten und von ihnen anderes erwartet.
Obwohl wir uns zu Beginn des Projekts einig waren, alles gemeinsam zu erarbeiten, gab es doch zwischendurch auch den Wunsch eines Lateinamenkaners, dass wir Deutschen „Chef“ der Gruppe sein sollten, die Entscheidungen über die endgültigen Bilder treffen und die Diskussion leiten sollten. Da wir jedoch selbst mitmachen wollten, statt nur von außen zu kontrollieren und zu leiten, war die gesamte Gruppe gefordert, neu über Diskussionsstile und Arbeitsformen nachzudenken und das Projekt dementsprechend zu gestalten. Mit fünf Künstlern und einer Künstlerin waren wir eine relativ große Gruppe. Bedenkt man, dass eine Zusammenarbeit von Künstlern fast immer auch vom Durchsetzungswillen der einzelnen Persönlichkeiten und des individuellen Stils gekennzeichnet ist, war die Gemeinsamkeit, die wir uns vorgenommen hatten, keine leichte Aufgabe. Wir konnten sie nur erreichen, indem wir in der Entwurfsphase konsequent alle individuellen Bildideen betrachtet und besprochen, aber keine ausgewählt haben, sondern immer wieder voneinander abgeguckt haben; einer hat die Idee des anderen aufgegriffen, neu gefasst usw. bis schließlich ein bildhaftes Rahmenkonzept entstand, in das einzelne Ideen wieder integriert werden konnten. Es entstand wirklich etwas ganz Neues als Gemeinsames. Sehr hilfreich war in dieser Phase die ständige Anwesenheit einer Dolmetscherin. So konnten Missverständnisse weitgehend vermieden werden, die Diskussionen waren ruhiger, konzentrierter, gleichberechtigter.
Dass unsere Gruppe relativ groß war, dass wir mit vier Lateinamerikanern arbeiten konnten, hatte für den kulturellen Austausch große Vorteile. Wir stellten bald fest, dass wir aus drei verschiedenen Kulturen kamen, denn Nicaragua als kontinentale Kultur und Cuba als karibische Insel hatten sich in den vergangengen 500 Jahren unterschiedlich entwickelt. Während auf Cuba die ursprünglichen Bewohner fast völlig vernichtet wurden und die folgende Kultur stark durch die afrikanischen Sklaven geprägt wurde, gibt es bei den Menschen Nicaraguas noch indianische Ursprünge und Reste der alten Kulturen, wenn auch größtenteils nur als museale Relikte, so doch sichtbar und erforschbar. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Bewertungen der Eroborungsgeschichte, unterschiedliche Möglichkeiten der Suche nach kulturellen Wurzeln. So gab es auch in unserer Gruppe Diskussionsstoff zwischen Cubanern und Nicaraguanern. Der große Gegensatz Lateinamerika – Europa konnte differenzierter betrachtet werden. Auch konnten wir besser unterscheiden zwischen kulturell und individuell geprägten besonderen Eigenschaften oder Verhaltensweisen. Das hat die Auseinandersetzungsmöglichkeiten gefördert. Nicht jede Haltung konnte gleich als „typisch lateinamerikanische Mentalität“ oder „typisch europäisch“ eingeordnet werden. Wie in jeder Gruppe von Menschen entwickelten sich auch hier nähere und weniger nahe Beziehungen und Freundschaften aufgrund individueller Kriterien.
Möglicherweise sind nicht die vielen Informationen über die jeweiligen Länder, Kulturen und internationalen Beziehungen, die wir erhalten haben, und die zweifellos auch notwendig sind, um für eine Veränderung der Politik einzutreten, die wichtigste Erfahrung aus dem Projekt, sondern das Erleben davon, dass Nähe und Vertrautheit möglich sind zwischen Menschen aus so unterschiedlichen Teilen der Welt. Ökonomisch zerfällt diese Welt immer mehr. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. Das ist beruhigend und gibt erst die emotionale Kraft, für politische Veränderungen zu handeln.
Zu den besonderen Möglichkeiten kulturellen Austauschs durch Bilder
(Text KoPra 1992)
„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ (Paul Klee)
„Die Augen sehen nur das, was ihnen in einem einzigen Moment entgegensteht; sie finden sich auf einem kleinen Feld zusammen. Der Geist jedoch vervollständigt; erinnert alle Felder; er lässt sie gemeinsam tanzen. Er braut sie zusammen, er vertauscht sie, alles bewegt sich. Auch verwandelt er sie, er würzt sie nach seinem Gusto.“ (Jean Dubuffet)
Ein Großteil der Besonderheiten jeder Kultur findet sich in ihren Bildwelten wieder: in den Erscheinungen der alltäglichen Umgebung, im Fernsehen, Büchern, auf Plakatwänden, in der Kunst, in sprachlichen Bildern, Geschichten, Metaphern. Jede Kultur hat ihre bildhaften Symbole, ihre tradierte Bildsprache, einzelne Motive, Farben, Formen haben in jeder Kultur einen spezifischen Bedeutungszusammenhang.
Bei der gemeinsamen Erarbeitung der Wandbilder hatten wir keinen sichtbaren Gegenstand vor Augen, den es ‚nur‘ künstlerisch zu interpretieren galt. Unsere Bildideen entstanden im wesentlichen aus unseren Köpfen, unseren jeweiligen Erfahrungen und Kenntnissen heraus. Es waren daher in dem beschriebenen Sinne kulturell geprägte Bilder.
Wir entwarfen und sammelten zunächst individuell Bildideen. Die Diskussion darüber führte uns dann zu einem intensiven Austausch über politisch-kulturelle Themen. So gab es zum Beispiel Entwürfe, die deutlich die Macht und Gewalt der europäischen Eroberer und die gemordeten und unterdrückten Lateinamerikaner zeigten. Sofort entstanden eine Reihe von Fragen: „Sehen wir Lateinamerikaner uns selbst in der Geschichte und Gegenwart nur als Opfer? Sind die Europäer immer Täter? Wollen wir Europäer und Lateinamerikaner uns selbst so sehen und darstellen? Reproduziert man nicht die Unterdrückung, wenn man diese Rollenverteilung selbst anerkennt? Wer oder was sind die wirklichen Täter und Opfer? Wo gab und gibt es Widerstand? Wo stehen wir persönlich innerhalb unserer jeweiligen Kultur?
Schon befanden wir uns inmitten einer Diskussion über die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in den einzelnen Ländern und zwischen ihnen, über Weltmarktpolitik, Produktdiversifikation, EG-Zölle, die Beziehung zwischen Eigentum und Produktivität, usw. Die zerstörten Tempel der Azteken sind Symbol für die Vernichtung der alten Kultur durch die Spanier. Aber sind die Treppen zu den Opferstätten nicht selbst Symbol von Macht? Wer steht am Fuß der Treppe oder Leiter? Wer steht oben, hat den Überblick, erhöht sich gegenüber anderen? Ist der Weg, der auf einer Treppe zurückgelegt wird – gesehen als gesellschaftliche Entwicklung – gerade und einfach? Wo entspringt die Treppe und wo führt sie hin?
Der Zirkus als symbolischer Raum: Die Frage, ob uns das Bild des Zirkus als Utopie für ein Zusammenleben der Menschen dienen kann, hängt vom Bedeutungszusammenhang ab, den „Zirkus“ in den verschiedenen Kulturen hat. Wo und warum gibt es Zirkus? Was wird dort gezeigt? Warum geht man in den Zirkus? Ist Zirkus eine Scheinwelt oder Demonstration menschlicher Fähigkeiten oder beides? Wer ist der Messerwerfer?
Weitere wichtige Erfahrungen miteinander ergeben sich für uns aus der Tatsache, dass wir mehrere Wandbilder gemalt haben. Bei jedem einzelnen entwickelte sich eine andere Arbeitsweise. Die beiden großen Wandbilder in Braunschweig befinden sich an gegenüberliegen Wänden und gehören konzeptionell und inhaltlich zusammen. Die erste Wand hat unsere Sicht der vergangenen 500 Jahre zum Thema, die zweite Wand unsere Utopie vom Zusammenleben der Menschen und Kulturen.
Für die erste Wand hatten wir uns einen relativ genauen Entwurf erarbeitet. Jeder Strich am Entwurf und jede Fläche an der Wand war gemeinsames Produkt. Nicht nur die einzelnen Motive, sondern auch die genaue Form, die Farben und die malerische und materialtechnische Umsetzung wurden immer wieder besprochen, versucht, verändert. Formen und Farben wurden gemäß der von uns beabsichtigten Bedeutung und Wirkung entwickelt. Das Bild gelang dementsprechend durchdacht, „intellektuell“. Bei dieser Vorgehensweise vermissten wir jedoch das Vergnügen am Malen, die Eigenverantwortlichkeit, das gegenseitige Vertrauen in eigene künstlerische Lösungen innerhalb des Bildzusammenhangs. Auch war ständig neu zu organisieren, wer nun wo und wie und mit wem zusammen weiterarbeitet.
Für das gegenüberliegende, zweite Bild ergab sich glücklich, dass wir als gemeinsames Konzept das Bild vom Zirkus gewählt hatten, in dem sich Verschiedenes abspielte. Diese Einzelszenen waren auch in ihrer Komposition und Bedeutung für das Bildganze besprochen und ansatzweise gemeinsam entworfen. Es passte jedoch ins inhaltliche Konzept, hier auch individuelle Handschriften und Umsetzungsformen sichtbar werden zu lassen. So hat jeder zwei oder drei Einzelszenen allein oder zu zweit gestaltet. Die unterschiedlichen formalen Stile, die nun nebeneinander und doch eingefügt in ein Ganzes zu sehen sind, sind auch kulturell, nicht nur persönlich geprägt, und es wird deutlich, dass nicht nur in Motiven und Themen, sondern auch in der Form kulturelle Inhalte liegen.
Die Qualität des ersten Bildes resultiert aus der Gemeinsamkeit, die des zweiten aus der konsequenten Nutzung vorhandener, entwickelter Fertigkeiten und Fähigkeiten jedes Einzelnen. Das erste Bild ist bestimmt von der Suche nach Integration und nach der einen, richtigen, „sachlich begründeten“ Form; während das zweite durch Vertrauen und Eigenverantwortlichkeit offen ist für die Vielfältigkeit der Form als kultureller Ausdruck. Will man daraus Schlussfolgerungen ziehen auch für andere, nicht-künstlerische Formen der Zusammenarbeit zwischen Menschen verschiedener Kulturen, so bleibt zu bedenken, dass das eine Bild nicht schlechter oder besser ist als das andere. Jedes hat seine Richtigkeit erst durch die Existenz des gegenüberliegenden Anderen.